Cimitero monumentale di Staglieno

Tritt man durch den Haupteingang in diesen monumentalen Friedhof ein, fällt das pulsierende Leben sofort ab wie lästige Fliegen. Der Lärm der nahen Stadt, alle sonst so zuverlässig vor einem stehenden Aufgaben und jegliches strebsame Tun treten in den Hintergrund und man wird gefangen genommen von einer ungeahnten Präsenz und Gegenwärtigkeit der eigenen Existenz und einer merkwürdigen Stille, die durch lautes, nie endendes Zirpen der Grillen noch untermauert wird.

Die lebhaften Farben des Blumenmeers auf den zentralen Grabfeldern verblassen bald vor dem inneren Auge, das sich auf das Wesentliche konzentrieren möchte. Wie selbstverständlich ist der Himmel jetzt bewölkt, die Sonne zieht sich diskret zurück. Der Boden ist zweifelsfrei fest und doch sucht man Halt.

Man fühlt sich klein und bedeutungslos wie in den Bergen, vor allem wenn man vor der neun Meter hohen Statue des Glaubens und vor der monumentalen Treppe steht, die zum mächtigen Pantheon führt. Für einen Moment scheint sich diese Statue langsam zu bewegen, scheint das schwere Kreuz empor zu heben. Als würde sie den Weg zu einem bestimmten Grab zeigen wollen.

Der Begriff Andacht bekommt hier eine neue Dimension, die mit Worten kaum zu fassen ist. Die Zeit verläuft langsamer, sie dehnt sich als sei man kurz vor dem Eintritt in ein galaktisches schwarzes Loch. Jegliche Eile wäre nun lächerlich.

Zehntausende Gräber, unzählige Statuen, Denkmäler, Säulengänge und Grabkapellen umgeben das Pantheon. Die Wünsche der Menschen, Trauer, Schmerz und Hoffnung der Hinterbliebenen, aber auch der Stolz und die Freude über das Erreichte auf Erden sind von Künstlern tausendfach in Marmor gemeisselt und in Bronze gegossen worden. Diese Werke verschiedenster Stilrichtungen, vom Neoklassizismus bis zum Art déco, versuchen die grosse Leere, die der Tod offensichtlich hinterlässt, mit all dem zu füllen, was Menschen bewegt.

Es sind diese Wünsche, die seit Jahrzehnten hartnäckig in den filigranen, zerbrechlichen Engelsflügeln sitzen bleiben und die den wahren Kern des menschlichen Lebens ausmachen, selbst wenn wir das gar nicht mehr verstehen.

Der Wunsch schwerelos und frei zu schweben, zu gleiten, zu fliegen, Grenzen spielend zu überqueren wie ein Schmetterling.

Der Wunsch nach Überwindung des Todes, nach Unsterblichkeit, den wir heute kaum mehr zulassen, es sei denn als belanglose Floskel auf einer Beerdigung, entsprach zur Blütezeit dieses Friedhofs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei vielen Menschen noch einem festen Glaubensbekenntnis.

Ich schaffe es nicht, dieses gigantische Freilichtmuseum der sakralen Bildhauerei systematisch zu durchforsten. Zu weit die Wege, zu umfangreich und verwirrend die ganze Anlage, zu chaotisch vor allem mein Gehirn. Es gibt zwar detaillierte Pläne, sogar zwei kleine Buslinien innerhalb des Friedhofs, die die Angehörigen zu den Gräbern ihrer Liebsten bringen.

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Doch mir bleibt nur ein planloser mehrstündiger Spaziergang, um Eindrücke zu sammeln. Ich finde dabei soviel Melancholisches und Surreales, wie selten zuvor. Zum Beispiel eine lebendige Gottesanbeterin, die auf der Spitze eines Marmorflügels eines kindlichen Engels sitzt; sie betet für die Seelen der vielen toten Kinder oder fängt einfach nur einen Käfer, um satt zu werden.

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Im inneren Ohr erklingt Crêuza de mä, jenes monumentale Lied des Genueser Liedermachers Fabrizio de Andrè, das die Zeit genauso zu dehnen und relativieren vermag wie der Friedhof von Staglieno. Doch leider finde ich sein Grab nicht.

Umbre de muri muri de mainé – Schatten von Gesichtern, Gesichter von Matrosen,

dunde ne vegnì duve l’è ch’ané – woher kommt ihr, wohin geht ihr?

Der Skeptiker am Strand von Camogli

Er stand allein im groben Kies von Camogli. In einer Nacht im Februar, in horizontloser Dunkelheit. Natürlich war es kühl und doch war da eine Illusion von salztrunkener Wärme. So blieb er eine Weile stehen, fragte sich wie so oft, ob er das Richtige tat. Sehen konnte man beinahe nichts. Doch er hörte das Meer unablässig gegen das Ufer arbeiten. Helles Rauschen und dumpfes Steine Rollen wechselten sich immer wieder ab. Derweil fühlte er sich ein wenig schutzlos und doch auf eine seltsame Art geborgen; das kam ihm absurd vor. Er fühlte sich selbst als absurdes Wesen. Ihm war es, als sei er in den dunklen Magen eines gigantischen Tiers hinabgestiegen, vor sich nur noch tosende Verdauungssäfte.

Night – light – waves 1
Night – light – waves 2
Night – light – waves 3

Aber die Augen gewöhnten sich an die Nacht. Keine Sterne, kein Mond, keine Positionslichter von Fischerbooten. Nein, es war das Leben der Stadt, das gerade noch die brechenden Wellen erleuchtete. Dort, an der Uferlinie, hätte er ausharren wollen bis in den Morgengrauen. Bis er die Basilica Di Santa Maria Assunta wieder zu sehen bekäme. Doch seine Müdigkeit zwang ihn, die spontane Idee zu verwerfen.

So sah er die Kirche schon bald im Traum, wie sie heftig umspült wurde von dunklen, turmhohen Wellen, als wollte das Tier sie ohne zu zögern verspeisen. Nach bangen Momenten tauchte ein barmherziger Wal am Strand auf, spuckte einen sonderbaren Heiligen aus, der sich betend niederkniete und alsbald verstummten die Winde und das Meer zog sich zurück.

Camogli 9

Beim späten Frühstück sah er durchs Panoramafenster des Hotels, dass die Basilica den Traum unbeschadet überstanden hatte. Möwen umkreisten sie, als könnten sie das kostbare Bauwerk mit ihren Engelsflügeln beschützen.

Die Kirche, benannt nach dem Glauben an die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel, ist einer jener Orte, an denen die Mutter Gottes, die Ersterlöste, der erste unsterbliche Mensch in der Chronik des christlichen Glaubens, verehrt wird.

Vor dem Verzehr der verbotenen Frucht, also im Urstand, wäre Unsterblichkeit noch selbstverständlich gewesen. Tempi passati. Ewiges Leben bleibt folglich der grösste Wunsch vieler Sterblicher. Der Skeptiker fragte sich, wie er sich denn diesen süssen Wunsch verwirklichen könnte; bemerkte aber sogleich, wie töricht sein Gedanke doch war.