Stelser Zeitreise

Als ich endlich das grosse Scheunentor hinter mir schloss, es war schon später Nachmittag, da empfing mich eine unglaublich frische, ja kalte Bergluft. Ich blinzelte ins Licht und hörte nichts als sanften Wind. Ich liess mich von meinen Schritten leiten. Ein Ziel hatte ich nicht. Noch nicht.

Fog and snow in May, Stels 1
Fog and snow in May, Stels 2
Fog and snow in May, Stels 3
Fog and snow in May, Stels 4

Inzwischen, längst hier unten wieder gestrandet, im erbarmungslosen, brüllenden Flachland, erstaunt mich doch die grosse Distanz, welche die kurze Zeit zwischen Mai und Juni auf die Ereignisse zu legen vermag. Das Erinnern wird durch tausend Banalitäten zugedeckt. Man sagt auch, die Erinnerung verblasse. Doch ist es nicht viel mehr ein Zuschütten? Täglich fallen neue Schichten wie Schnee auf die alten Tage, die sich unter dem Gewicht der Gegenwart immer weniger bemerkbar machen.

Der Mai in Stels hingegen begann mit viel Schnee. Im Laufe der Tage trug die Sonne geduldig Schicht um Schicht ab. Bis nur noch kurzes Gras blieb. Millionen Krokusse blühten am Tag darauf. Noch einen Tag später kam ein Mensch auf einer fahrenden Mistschleuder vorbei und änderte alles von Neuem. So erinnert sich Berglandschaft an den Frühling. Hier sind die Spuren der Jahreszeiten noch direkt erlebbar.

Ein Hase sprang talwärts, ein Falke suchte in der Luft stehend nach Mäusen. Und ein paar Rehe scheuchte ich ungewollt aus dem Unterholz. Junge Birken tanzten in den Mai. Über allem hingen schwere Wolken, die mich einhüllten und wieder losliessen. Auch der Schnee war schwer. Mein Weg oft kaum zu sehen. Ich sank ein bis über die Knie. Manchmal durchquerte ich steile Bachtobel, die voller Geröll, Totholz und Geschiebe waren. Erinnerung an einen harten Winter. Kiesgeschiebe verwandelte sich in dickflüssigen Teig. Die Schritte darin wurden zur Lotterie.

Müde zurück, das riesige Scheunentor aufschiebend, freute ich mich einfach darauf, einiges an Holz im Ofen zu verbrennen. Die Berge versanken im Vergessen der Nacht.

Rückblende

Manchmal werde ich ein wenig nostalgisch und stöbere auch in den älteren Ablagen meines Fotoarchivs. 2011 habe ich meine allerersten ICM-Bilder gemacht, die ich heute gerne mal zeigen möchte.

Das erste ist im Juni in der Toskana entstanden. Es war ein kühler, ungemütlicher Tag, es regnete und der Blick aus dem Hotelzimmer war eigentlich nicht wirklich fotogen. Irgendwie kam ich dort auf die Idee, einen Wischer ins triste Bild zu malen und schon war es da, mein erstes ICM-Bild. Auf dem Kameramonitor sah das ganz nett aus und ich hab’s bis heute im Archiv behalten.

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Monteriggioni

Das Zweite entstand im gleichen Jahr im Oktober in Venedig. Wir sassen im Caffè Florian und haben zwei Kaffees und etwas Kuchen bestellt, dazu dudelte schöne Live-Kaffehausmusik von draussen durch die offenen Türen und Fenster herein. Das machte schlappe 50 Euro, aber was soll’s, wir waren im Flo in Venedig und man gönnt sich ja sonst nix…

Dort hatte ich dann die Idee, die Kamera während der Belichtungszeit ein wenig um die Objektivachse zu rotieren. Das Resultat fand ich damals sogar sehr aufregend – nun, wahrscheinlich neige ich halt doch etwas zu Selbstüberschätzung…

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Caffè Florian, Venice

In den folgenden Jahren habe ich fotografisch gerne ein bisschen experimentiert und so hat es also angefangen, das Fotografieren nicht nur im Dokumentarstil und als Ferienerinnerung, sondern aus Leidenschaft, um die Welt so darzustellen, wie ich sie gerne sehe.

Jahrelang wusste ich nichts von ICM, ich habe es einfach gemacht. Ich war sozusagen der ignoranteste Autodidakt, den man sich vorstellen kann. Vor zwei, drei Jahren habe ich dann realisiert, dass viele andere Fotografen „das“ ja auch machen. Und seit etwa einem Jahr wusste ich dann endlich, wie das Ding heisst und seither schreibe ich auch überall fleissig ICM auf meine Fahnen.

 

 

Rückblende in Richtung Sommer

Jetzt, wo der warme und sonnige Oktober sich dem Ende zuneigt und die eher nasskalten Spätherbsttage vor der Tür stehen, strolchen meine Gedanken öfters mal etwas wehmütig zum Sommer zurück, zum Frühsommer gar, mit seinem frischen, unbeschwert gleissenden Licht, dem Glühen und Zirpen…

Viele Menschen träumen in Schwarz-Weiss. Auch bei Erinnerungen verblassen oft die Farben, manchmal fast ganz – bis auf einen winzigen goldigen Rest.